Brasilianer, Fußballprofi, Hotelchef

„Ich wollte immer nur Fußball“

Alles beginnt am 26. Mai 1978 in Belo Horizonte in Brasilien. Renato wird geboren und ist ab jetzt Teil einer fußballbegeisterten Großfamilie. Seine Mutter hat fünf Geschwister, sein Vater drei, Renato selbst zwei. Dazu kommen dutzende Cousins und Cousinen, die bis heute alle in Brasilien leben. Zunächst läuft alles recht unspektakulär. Renato geht zur Grundschule und fängt mit sechs Jahren an, Fußball zu spielen. „Das war damals noch ein Futsal-Verein von unserer Schule. Futsal war immer schon groß in Brasilien. Die ganzen Top-Spieler, die so viel Qualität haben, die kommen vom Futsal, zum Beispiel Ronaldo oder Ronaldinho. Du hast nicht viel Platz und musst schnell denken. 90 Prozent der Jungs fangen mit Futsal an.“ Bernardi spielt schon in jungen Jahren jeden Tag Fußball oder Futsal, also die Form des Hallenfußballs, bei der unter anderem der Ball und das Spielfeld kleiner sind als beim normalen Fußball. 

Kontakt zu Fußball-Profis bis heute geblieben

In der Drei Millionen Einwohner-Stadt Belo Horizonte gibt es schon für die Jüngsten Stadtmeisterschaften. Und bei diesen Turnieren sitzen auch Vertreter der großen brasilianischen Vereine auf der Tribüne, um Ausschau nach neuen Talenten zu halten. „Als ich 14 war, bekam ich eine Einladung von dem U15-Jugendtrainer von Atletico Mineiro. Da floss noch kein Geld – aber ich war so stolz, eine Einladung eines solchen Vereins bekommen zu haben.“ Für Bernardi läuft’s in diesen Jahren wie geschmiert, zumindest sportlich. Er durchläuft die U15, die U17 und die U20 von Atletico Mineiro, spielt mit späteren Superstars wie dem Schalker Lincoln und dem Dortmunder Dédé in einem Team. Zu beiden hat er bis heute Kontakt. Der Tag ist in diesen Jahren eng getaktet. Von sieben bis 13 Uhr ist der Teenager in der Schule, um 14.30 Uhr hat er Fußball-, um 19 Uhr dann noch Futsal-Training. „Aber ich war super-glücklich damit. Ich hatte auch kein anderes Hobby, habe mich nie für Basketball, Schwimmen oder Judo interessiert. Ich wollte immer nur Fußball.“ Allerdings gibt er auch zu: Er war sehr froh, dass er zu Hause bei seiner Familie wohnen bleiben konnte. Der Weg ins Internat wäre schwer gewesen. Seine Eltern unterstützen ihn, begleiten ihn zu Spielen, die teilweise mehr als einhundert Kilometer entfernt liegen, machen dem Teenager Bernardi aber auch klar: Die Leistungen in der Schule müssen stimmen, sonst gibt’s kein Fußball mehr. „Das war Motivation genug für mich. Meine Mama hat sogar mehr Druck gemacht als mein Vater.“

Profi ohne Spielpraxis

Als Bernardi 18 wird, erreicht er seinen Karriere-Höhepunkt. Er erhält einen Profivertrag und bekommt plötzlich etwa 1.500 Euro im Monat. Mit dem eigenen Auto fährt er ab sofort mehrfach die Woche mit Freunden ins Kino. „Das war schon cool, ich brauchte Papa nicht mehr nach Geld fragen. Aber ich war eigentlich einfach nur glücklich, dass ich Profi bei Mineiro bin. Mein Vater war natürlich auch unglaublich stolz. Er hat selbst immer Fußball gespielt, war aber nie Profi, obwohl er besser war als ich.“ 

Bei Atletico Mineiro hätte Renato Bernardi jetzt unter anderem in einer Mannschaft mit Größen wie Taffarel, dem brasilianischen Nationaltorwart, gespielt. Hätte, weil die sportliche Erfolgsgeschichte, zumindest für Außenstehende, jetzt ins Stocken gerät. „Ich habe nie die Chance bekommen, zu spielen. Atletico Mineiro ist ein riesiger Verein, mit etlichen Nationalspielern. Da ist es als junger Spieler unheimlich schwierig, sich zu präsentieren, wenn man erst gar nicht eingesetzt wird. Und dann fangen die an, dich auszuleihen.“

 

Bernardi wird vorrangig an kleinere Vereine im gleichen Bundesland, das so groß wie Frankreich ist, verliehen. Hier kann und soll er Spielpraxis sammeln, denn diese Vereine spielen immer eine Art Bundesland-Meisterschaft von Januar bis Mai. Anschließend startet dann die erste, brasilianische Liga. „Drei Jahre ging das so. Ich wurde verliehen, kam nach etwa einem halben Jahr motiviert zurück und bekam wieder keine Chance.

 

Das lag auch daran, dass die Verantwortlichen bei Mineiro plötzlich ganz andere Leute waren. Die kannten mich gar nicht und liehen mich direkt wieder aus.“ Nicht nur die sportlich aussichtslose Situation bereitet Bernardi Kopfzerbrechen. Auch sein Marketing-Studium an der Uni, das eigentlich parallel zu seiner Fußball-Karriere laufen soll, leidet. „Wenn ich bei anderen Vereinen war, war ich teilweise mehrere hundert Kilometer von der Uni entfernt – da musste das Studium pausieren.“

 

Karriereende mit 23

Mit 23 Jahren zieht Renato Bernardi einen ersten, fußballerischen Schlussstrich. „Ich habe erst mal mein Studium zu Ende gebracht und nur noch Futsal gespielt.“ Was der zu der Zeit immer noch junge Mann ungerne zugibt: Er ist tief-traurig. „Ich hatte es immer wieder probiert, habe mit Spielerberatern gesprochen, DVDs mit meinen besten Szenen verschickt. Ich hatte auch noch bei verschiedenen Vereinen ein Probetraining.“ Am Ende klappt es nicht. Also arbeitet er erst mal im Betrieb seines Vaters, der Hunde- und Katzenfutter verkauft.

Anruf, Flug, Deutschland

Als Bernardi 26 ist, kommt plötzlich der Anruf eines Spielervermittlers. Es gebe eine Möglichkeit, in Deutschland als Profi zu spielen. „Das war ein Sonntag als er anrief, eine Woche später ging es los.“ Noch nie zuvor war Bernardi in Deutschland, nicht mal in Europa. Trotzdem ist ihm Deutschland nicht unsympathisch. Sein Großvater war Deutscher, deshalb auch der zum Teil deutsche Nachname von Renato. Der Opa arbeitete in Deutschland bei der Marine, Anfang der 1930er-Jahre wanderte er nach Brasilien aus. „Ich glaube, er ist weggelaufen. Ich glaube, dass er schon geahnt hat, dass es eine ungute Entwicklung in Deutschland geben wird.“ Deutsch wird bei den Bernardis später allerdings nie gesprochen, auch, weil es nicht gerade en vogue war, sich mit etwas Deutschem zu schmücken.

Deutschland-Ticket für 15 Jahre

„Eigentlich galt mein Visum für Deutschland damals für einen Monat. Jetzt sind 15 Jahre daraus geworden.“ Um Deutschland und die Deutschen kennenzulernen und zu verstehen, hat der Brasilianer eine ganz eigene Taktik. „Die ersten Monate habe ich nur beobachtet und geschaut. Und ich wusste: Du musst dich anpassen, wenn Du etwas erreichen willst. Ich habe angefangen, die Sprache zu lernen. Trotzdem hatte ich natürlich auch Heimweh. Der erste Winter in Deutschland war richtig hart.“ Bernardi hat zu dieser Zeit das Ziel Fußballprofi zu werden, ein zweites Mal vor Augen. Die Probetrainings beim 1. FC Köln und bei einem Verein in Polen laufen wieder ins Leere, bei Arminia Bielefeld hat er dann allerdings Glück und wird verpflichtet. Arminia war gerade in die erste Bundesliga aufgestiegen. „Mit Trainer Uwe Rapolder – ein spezieller Typ. Aber sein System hat immer funktioniert. Er hat das Beste aus seinen Mannschaften herausgeholt.“

 

Was Bernardi zu dieser Zeit nicht ahnt: Weil er keinen EU-Pass hat, bekommt er zunächst keine Spielerlaubnis, weil Arminia zu dieser Zeit nur eine begrenzte Anzahl an Nicht-EU-Ausländern einsetzen darf. „Ich habe wie ein Irrer trainiert und konnte nicht spielen.“ Nachdem der deutsche Pass endlich da ist, kann Bernardi spielen. Für die erste Liga reicht’s aber nicht mehr. Bernardi spielt zunächst noch in der zweiten Mannschaft von Arminia Bielefeld, anschließend noch in Gütersloh, in Wilhelmshaven, auf Zypern und zuletzt wieder in Herford. „Es sollte wohl alles nicht sein. Aber es war trotzdem eine super Erfahrung.“

Hauptgewinn Ehefrau

Auch wenn es fußballerisch eher hölzern lief, hat Bernardi den Weg nach Bielefeld nie bereut. Dort lernt er seine Frau Antje kennen. „Das war das Lustigste. Ich habe die ersten drei Monate in Bielefeld im Hotel gelebt und sie hat dort gearbeitet. Ich habe sie gesehen, habe sie angesprochen, ihr ein paar Geschichten erzählt. Und sie hat das geglaubt, was ich ihr erzählt habe. Jetzt sind wir bis heute zusammen und haben zwei Kinder. Und ich bin ganz ehrlich: Sie war am Anfang zu 99 Prozent der Grund, warum ich überhaupt in Deutschland geblieben bin. Sie hat mir so viel geholfen, war meine Bezugsperson.“

Antje begleitet ihn überall hin, richtet sich immer nach dem aktuellen Verein ihres Ehemanns. „Auf Zypern haben wir eigentlich vier Jahre wie im Paradies gelebt. Meine Frau hatte einen guten Job. Aber als unsere Tochter geboren wurde, haben wir uns gedacht, dass es besser ist, wenn die Kleine Anschluss an zumindest eine Familie hat. Also sind wir zurück nach Deutschland.“

 

Rocky-Szenen im Hotel

Fast zeitgleich kam dann das Angebot für seine Frau, dass sie das b&b-Hotel in Bielefeld übernimmt. Antje hat dann zu mir gesagt: „Warum machen wir das nicht gemeinsam?“ Ich habe zögerlich geantwortet: „Joa…, fangen wir an. Ich habe noch keine Ahnung, aber ich kann das lernen.“ Mit 34 ist Renato Bernardi plötzlich Hotelchef. „Es hat von Anfang an großen Spaß gemacht. Aber mein Kopf ist am Anfang explodiert, weil so viele neue Sachen auf mich zukamen. Meine Frau ist der Profi. Ich habe anfangs auch alles gemacht, im Housekeeping oder an der Rezeption gearbeitet. Ich wollte wissen, was die Mitarbeiter schaffen müssen. Jetzt weiß ich: Zimmer sauber machen ist nicht lustig.“ 

 

Nur drei Jahre später, im Jahr 2016, übernehmen die Bernardis auch noch das b&b-Hotel in Paderborn. Laut eigener Aussage hilft ihm der Fußball in der Hotellerie. „Im Fußball habe ich über die Jahre unzählige Leute kennengelernt. Da entwickelt man eine Menschenkenntnis. Das kommt mir sehr zu Gute. Außerdem habe ich wegen des Fußballs mehrere Sprachen gelernt – das hilft mir jetzt auch.“ Wenn man Bernardi über die Hotels reden hört, spürt man seine Begeisterung. „Besonders freue ich mich immer über Sportler im Hotel. Einmal war ein Boxturnier in Bielefeld. Da kamen auf einmal 20 Security-Leute an, die alle drei Meter groß und zwei Meter breit waren. Und dann geht der Aufzug auf und es kommen noch zehn Ringmädels heraus. Das war wie in einem Rocky-Film. In Paderborn waren mal eine Volleyball-Meisterschaft und eine Baseball-Meisterschaft. Ich habe nur noch drei Meter-Mädels und Baseball-Schläger gesehen.“

Mittlerweile haben die Bernardis mehr als 20 Mitarbeiter in ihren Hotels, fast alle kommen, wie der Chef selbst, aus dem Ausland. „Das sind Leute aus Afghanistan, Irak, Sudan, Polen, Griechenland, Italien oder den Philippinen. Ich gebe denen gerne eine Chance, aber die müssen auch arbeiten. Wenn jemand zum Beispiel am Wochenende nicht arbeiten will, kann er wieder gehen. Am besten direkt in sein Heimatland. Man muss sich einfach anpassen.“

Hoch und wieder runter

Kaum hatte Renato Bernardi mit der Eröffnung des zweiten Hotels wieder einen Meilenstein gesetzt, fuhr der Aufzug auch wieder mit Vollgas nach unten.  Das Finanzamt verlangte von den Bernardis ein saftiges Strafgeld, weil sie, laut der Behörde, bestimmte Sozialabgaben nicht gezahlt haben. „Es gab eine Änderung in der Rechtsprechung. Daraufhin bekamen wir rückwirkend eine Strafe für gleich mehrere Jahre. Wir haben versucht, uns mit dem Finanzamt auf einen Vergleich zu einigen – das hat aber nicht geklappt. Der ganze juristische Kram hat ein Jahr gedauert.“ Die Strafe war letztlich so hoch, dass die Bernardis Insolvenz anmelden müssen. Trotzdem erklärt die b&b-Zentrale direkt, dass sie mit den Bernardis weitermachen will. „Die Mitarbeiter wurden weiter bezahlt, die Hotels waren normal geöffnet. Alles lief pünktlich.“ Aber Bernardi lässt auch tief blicken. „Wir haben viel Geld verloren. Wir haben auch privat Geld investiert und verloren. Das war wie eine Niederlage im Fußballspiel. Es gab Momente, in denen ich so sauer war. Am liebsten wäre ich, zumindest mal für zwei, drei Tage, weggelaufen. Aber ich habe nie daran gedacht, hinzuschmeißen. Jeden Tag haben wir nach Lösungen gesucht. Wir sind mit einigen blauen Augen davongekommen. Jetzt bin ich mit meiner Frau noch enger zusammengewachsen.“ Mittlerweile ist die Insolvenz vorbei. Die Hotels werden von einer neugegründeten GmbH geleitet. Deren Chefs: Antje und Renato Bauer-Bernardi.

Auf die Frage, was sich der 41-Jährige für sein Leben noch wünscht, stockt Bernardi kurz. Dann sagt er: „Ich mache immer noch ein bisschen was mit Fußball nebenbei.“ Leidenschaft bleibt Leidenschaft.

Autor: Tobias Fenneker

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