Der Mann, der die Extreme liebt

Als André Wiersig am Strand der hawaiianischen Insel Molokai steht, ist es stockfinster. Das Einzige, was er sieht, ist seine eigene Hand vor Augen. Das Einzige, was er hört, ist das monotone Rauschen des Meeres. In den vergangenen Stunden ist die See unruhig geworden, der Wellengang stärker. Doch für André Wiersig gibt es kein Zurück. Ein Leuchtsignal, dann geht es los. Der Paderborner steigt ins Wasser und beginnt zu schwimmen. Vor ihm liegen mindestens 41 Kilometer auf offener See – und  noch rund siebeneinhalb Stunden Dunkelheit. Nicht die Temperatur des Wassers, das mit 20 Grad noch verhältnismäßig warm ist, sondern extreme Wellen und Strömungen werden André Wiersig in den kommenden Stunden herausfordern. Doch er hat ein festes Ziel vor Augen; er möchte das schaffen, was vorher lediglich 37 Menschen und noch keinem Deutschen gelungen ist: als Schwimmer den Kaiwi-Kanal zwischen den hawaiianischen Inseln Molokai und Oahu zu bezwingen.

 

Grenzgänger, sportbegeistert, diszipliniert

 

André Wiersig, Jahrgang 1972 und zweifacher Familienvater, ist ein Grenzgänger. Das beweist er bereits im September 2014, als er in exakt 9 Stunden und 43 Minuten den Ärmelkanal vom britischen Dover bis nach Calais in Frankreich durchquert. 45,9 Kilometer  legt er zurück. 16 Grad kaltes Salzwasser, hohe Wellen, Kontakt mit Meeresgetier und extremer Schiffsverkehr – das alles macht ihm damals, nur in Badehose und ohne Neoprenanzug, nichts aus. Im Gegenteil: André Wiersig, ein Mann, der das Abenteuer und die extreme Herausforderung liebt, bekommt Lust auf mehr. Sport spielt in André Wiersigs Leben schon immer eine wichtige Rolle. Mit elf Jahren tritt er in den Schwimmverein ein, ehe er langsam aber sicher den Triathlon für sich entdeckt. Der Triathlon ist es auch, der den Sportler schließlich das erste Mal nach Hawaii führt. Dort stellt er sich der ultimativen Herausforderung: einem Start beim Ironman. 3,86  Kilometer schwimmen, 180,2 Kilometer Radfahren und 42,195 Kilometer laufen – dafür benötigt André Wiersig 9 Stunden und 49 Minuten. Neben dem Erfolgserlebnis bleibt ihm vor allem die Schönheit der Insel in Erinnerung. „Es war traumhaft dort. Hawaii ist fantastisch“, sagt Wiersig, der sich damals mit seinem Vater und einem Freund auf die Reise macht. „Für mich war klar, dass ich eines Tages auch meiner Familie Hawaii zeigen möchte.“ Die Durchquerung des Kaiwi-Kanals ist die perfekte Gelegenheit. „Ich habe quasi nach einem Grund gesucht, nach Hawaii zurückzukehren“, sagt Wiersig und lacht.

 

 

Doch bevor es losgeht, muss er sich gründlich vorbereiten. Viel schwimmen und Ausdauer trainieren – klar. Aber auch die mentale Stärke spielt für Wiersig im Wasser eine wichtige Rolle. Und dieses Mal geht es nicht nur darum durchzuhalten, sondern sich auch auf die mögliche Begegnung mit einem auf den ersten Blick doch eher unangenehmen Meerestier vorzubereiten. „Ich wusste, dass mir Haie begegnen können“, sagt Wiersig. „Das ist natürlich erstmal ein komischer Gedanke.“ Um gut gewappnet zu sein, trifft er sich auch mit einem Haiforscher, der ihm Verhaltenstipps gibt. Er habe mit jemandem sprechen wollen, der diesen Tieren gegenüber positiv eingestellt sei. „Ich wollte nicht die Vision vom Schrecken der Meere hören.“ „Ruhig bleiben“ laute die wichtigste Devise bei der Begegnung mit einem Hai.  Die Tiere wüssten ohnehin, „dass da jemand schwimmt“ und die Wahrscheinlichkeit, einem Hai zu begegnen, sei sehr hoch. „Die Frage ist nur, ob man selber es mitbekommt“, sagt Wiersig. Abgesehen davon, dass ein schützender Haikäfig zum Schwimmen unpraktisch wäre, darf sich André Wiersig auch nicht mit einem solchen vor den Tieren schützen. Denn der Kaiwi-Kanal zählt genauso wie der Ärmelkanal zu den „Ocean’s Seven“ – den sieben legendären Kanälen und Meerengen dieser Welt und wer ihn, wie André Wiersig, offiziell durchschwimmen will, unterliegt den Regeln der Hawaiian Channel Swim Association. Schwimmen im Haikäfig ist daher genauso Tabu wie das Tragen eines Neoprenanzugs.

 

Schwimmbrille, Badekappe, Badehose, mehr nicht

 

Vorbereitet so gut es geht, macht sich André Wiersig zusammen mit seiner Familie und der seines Schwagers Jürgen im Oktober 2015, in den Herbstferien, auf den Weg nach Hawaii. Zwölf Tage lang wird er dort sein. Wann genau er seinen Versuch starten wird, weiß er noch nicht. Er wartet vor Ort auf die optimalen Bedingungen, um die Herausforderung anzugehen. Am 15. Oktober geht es schließlich los, das Wetter sieht gut aus. Mit dem Flugzeug landen André Wiersig und drei seiner Begleiter auf der Insel Molokai. Mit dem Taxi geht es wenige Stunden vor dem Start zu dem Strandabschnitt, an dem er später ins Wasser steigen wird. „Soll ich euch hier morgen wieder abholen?“, fragt der Taxifahrer. „Nein, André schwimmt gleich“, lautet die Antwort, die den Taxifahrer ungläubig schauen lässt, ehe er die Männer am Strand zurücklässt. Die letzten vierzig Minuten vor dem Start ist André Wiersig mit seinen Gedanken allein. Es ist später Abend und stockfinster. „Alles kommt dir auf einmal so unwirklich vor“, sagt er. Natürlich, die Situation hat er im Kopf zigmal durchgespielt. „Aber dann wird dir klar: Jetzt ist der Moment. Jetzt musst du abliefern.“ André Wiersig trägt eine Schwimmbrille, eine Badekappe und eine Badehose, mehr nicht. In seiner Hose steckt ein Knicklicht, damit er für das Begleitkajak sichtbar bleibt. Ursprünglich will er das Licht außen an der Badehose befestigen – doch das wird untersagt: „Die Gefahr, dass das Licht Tiere anlockt, war zu groß“, erklärt André Wiersig. Und so befindet sich am Kajak, das ihn in drei Metern Abstand begleitet, ebenfalls nur ein kleines Knicklicht, damit er sich orientieren kann. Das war’s.

 

Um 22.30 Uhr Ortszeit steigt André Wiersig schließlich ins Meer. Bereit, abzuliefern. Bereit, den Pazifischen Ozean zu bezwingen. Und tatsächlich: Es läuft gut. Die ersten drei bis vier Stunden ist er sogar auf Rekordkurs unterwegs. Und das, obwohl ihm die zuvor ebenfalls gefürchteten Portugiesischen Galeeren, Nesseltiere, die oft für Quallen gehalten werden, das Leben unnötig schwer machen. Die erste erwischt ihn nach rund einer Stunde an der Hand. André Wiersig bemerkt das aufgrund der Dunkelheit erst, als ein stechender Schmerz seine Finger durchzieht.  „Das war ein richtiger Schock, weil ich ja zu dem Zeitpunkt nichts gesehen habe. Erst dachte ich: Deine Hand ist ab.“ Während der zweiten Stunde, als der Schmerz in seinen Fingern langsam nachlässt, kommt eine Portugiesische Galeere mit seinem Gesicht in Berührung – der stechende Schmerz beginnt von vorn. Dabei hat André Wiersig versucht, sich auf diese Art von Schmerz vorzubereiten. Des Öfteren schwimmt er während der Vorbereitung für Hawaii mit voller Absicht in eine Qualle. „Dafür erntest du natürlich völliges Kopfschütteln“, sagt er grinsend, „aber ich wollte den Schmerz bewusst zulassen.“

Nicht nur die Schmerzen machen André Wiersig unterwegs schwer zu schaffen. Auch das Meer wird immer unruhiger. Die Wellen werden stärker und unberechenbarer und rollen zum Teil über ihn hinweg. André Wiersig geht volles Tempo, lässt nicht nach. Und doch: Wegen der starken Strömungen und wechselnden Winde kommt er zum Teil nur 300 Meter in der Stunde vorwärts. „Du musstest total konzentriert sein. Es war kein Platz für irgendwelche Gefühle“, sagt Wiersig. Er kann allerdings nicht verhindern, dass seine Gedanken immer wieder ums Aufgeben kreisen. „Der Schlüssel war, dass ich immer weiter geschwommen bin, während ich nachgedacht habe.“ Erst als es hell wird, nach mehr als sieben Stunden also, werden die Gedanken an einen vorzeitigen Abbruch des Versuchs weniger. Sie werden abgelöst vom Gedanken, dem Ziel nach so viel Zeit, die bereits vergangen ist, schon recht nah zu sein. „Und dann schwimmst du einfach weiter.“

 

Wenn plötzlich ein Wal unter dir herschwimmt

 

Im Wasser spielt für André Wiersig die Nahrungsaufnahme eine entscheidende Rolle. Alle 20 Minuten geht am Boot, das ihn im Abstand von etwa 200 Metern begleitet und mit dem sonst keine Kommunikation stattfindet, gleisend helles Scheinwerferlicht an. Das Zeichen für den Paderborner, zum Boot zu schwimmen und die von Schwager Jürgen mithilfe eines Keschers gereichte Flüssignahrung zu trinken. „Natürlich haben auch die Tiere das Licht wahrgenommen, weswegen alles total schnell gehen musste.“ Wichtig für André Wiersig: Er darf während der Aktion das Boot nicht berühren, sonst ist sein Versuch ungültig. Doch alles verläuft nach Plan. In der Nacht hatte André Wiersig allerdings noch eine Begegnung der besonderen Art. „Man schwimmt, alles ist schwarz und das einzige, was man sieht, sind die Luftblasen,  die von den Händen abperlen, wenn man sie beim Kraulen vorne ins Wasser taucht“, erklärt er. Doch plötzlich seien direkt unter ihm große Luftblasen aufgestiegen. „Und es war unter mir auf einmal nicht mehr schwarz, sondern gräulich.“ Der Grund: Ein Wal schwimmt der Länge nach unter André Wiersig hindurch. Ein faszinierender Moment. „Du spürst richtig die Kraft und die Energie unter dir“, sagt Wiersig. André Wiersig schwimmt und schwimmt. Zug um Zug geht es vorwärts in Richtung Ziel. Obwohl er versucht, seine Gefühle auszuschalten, kann  er nicht verhindern, dass seine Gedanken auch um die eigene Familie kreisen, die im Ziel auf der Insel Oahu auf ihn wartet. Weil er aufgrund des starken Wellengangs länger braucht als angepeilt, habe seine Familie gefühlt „seit Stunden am Strand stehen“ müssen und ihn nicht sehen können.  „Irgendwann wollte ich einfach nur noch ankommen.“ Ankommen und bei seiner Familie sein, die ihn bei seinen nicht ungefährlichen Vorhaben bedingungslos unterstützt.

 

Und dann, endlich, ist es da, das Ziel vor Augen:  53 statt 44 Kilometer ist Wiersig geschwommen, 18 Stunden und 26 Minuten hat er statt der kalkulierten 12 bis 16 Stunden gebraucht. Der Strand, an dem André Wiersig ankommt, heißt Sandy Beach. Normalerweise ist hier schwimmen strengstens verboten. „Am Schluss musste ich mich wegen der Shorebreaks nochmal voll konzentrieren.“ Bei geringer Wassertiefe brechen die Wellen vor dem Ufer sehr kurz, hinzu kommt eine Unterströmung. Wer nicht aufpasse, werde „volles Rohr an Land gespült“. Als André Wiersig  den Strand erreicht, kann er sich kaum auf den Beinen halten. Doch das ist ihm egal. „In der Situation freust du dich einfach nur, dass du da bist.“ Wiersig hält seine Familie in den Armen, ist glücklich, dass er die Herausforderung gemeistert hat und „positiv traumatisiert“. Unter normalen Bedingungen wäre ein Rekord drin gewesen, ist er sich sicher. „Aber das, was ich unter den erschwerten Bedingungen erreicht habe, gibt mir noch viel mehr Selbstvertrauen.“

 

Immer das nächste Ziel im Fokus

 

Und jetzt? Nach so viel Abenteuer? War’s das erstmal? - André Wiersig muss nicht lange überlegen. Er lacht. Wer ihn kennt, weiß, dass er den nächsten Plan schon längst ausgeheckt hat. „Ich möchte den North Channel zwischen Irland und Schottland durchqueren“, verrät er. Und dieser Kanal gehört, wie sollte es auch anders sein, genau wie der Kaiwi-Channel und der Ärmelkanal zu den „Ocean’s Seven“. Mit einer Wassertemperatur von selten mehr als zwölf Grad, starkem Seegang und heftigen Strömungen ist der North Channel die nächste große Herausforderung für André Wiersig, den Grenzgänger aus Paderborn.

 

Update Stand Juli 2017: Mittlerweile hat André Wiersig schon vier Stationen der "Ocean’s Seven" absolviert.

 

Autor: Katharina Bätz

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Kommentare: 1
  • #1

    Dieter Neukamm neukamm-herchen@t-online.de (Montag, 23 November 2020 17:01)

    Vor ein paar Tagen las ich in der FAZ die Rezension über André Wiersigs 4 CDs, auf denen er über seine Bezwingung der Ocean's Seven berichtet. Ich kaufte sie mir und bin dabei, sie mir anzuhören. Ich glaube, noch nie habe ich so packend vorgetragene Schilderungen von spannenden Abenteuern der ganz besonderen Art gehört, wie sie A.W.vermittelt, der ja alles selbst erlebt hat. Und es ist nicht nur die ungeheuere physische Leistung, die einen ehrfürchtig zuhören läßt, dazu kommt die lockere und überaus sympathische Art des Vortrags. Was wir hören, ist nicht abgelesen, er erzählt es uns, als ob er uns gegenüber säße. Er lacht des öfteren verhalten, wenn er sich an lustige Begebenheiten erinnert, und beeindruckt spüren wir seine tiefe Verbindung zur Natur, im besonderen Maße natürlich zu dem Element, in welchem er sich bewegt. - Es wäre ein Genuß, sich die insgesamt drei Stunden hintereinader anzuhören, aber ich zwinge mich, nach einer halben Stunde etwa das Gerät abzuschalten, damit mir möglichst viel bleibt, worauf ich mich freuen kann.
    Für mich als fast 82-Jährigen, der das Sich-Quälen früher im Hochgebirge und während mehrerer Marathons selbst erlebt hat, sind diese CDs ein Geschenk.
    Herzliche Grüße an den Westfalen, der zum Ostwestfalen wurde von einem Ostpreußen, der ebenfalls in Ostwestfalen (Bünde) aufwuchs.